Montag, September 11, 2006

#1

Es ist Montag, 06:00 AM. Ich liebe es, am morgen als erster im Hauptgebäude zu sein. Sogar die Putzfrauen sind später da als ich. Bald geht die Sonne auf, was ich in meinem kleinen Büro mit Fenster zur Nordseite zwar nicht so richtig geniessen, zumindest aber erahnen kann. Ich erhoffe mir, bei der nächsten Rochade eines der begehrten Südbüros ergattern zu können. Einer dieser aufgeblasenen Wingler soll verdammt nochmal seinen Platz räumen. Die kommen eh erst um neun und sind ab 17:30 an einer dieser Afterworkparties.

Ich sehe im Webcorp meine Todo-Liste für heute durch, obwohl ich sie auswendig kann. Ab 07:40 Arbeitsplanung mit J. für die Nachmittagslektionen. Um 10:00 Meeting mit dem Schulleiter - dem Betreff seiner Einladung nach ist er nicht zufrieden mit meinem Budgetvorschlag fürs Wintersemester. Na warte. Um 11:45 Essen - alleine. Nicht dass ich niemanden hätte, aber vor einem Unterrichtsnachmittag bin ich einfach gerne alleine. Ausserdem sitzt dann keiner am Tisch, der mich schief anschaut, wenn ich mein Weizen trinke. Zudem liegen Weisswürste um 11:45 sogar in Oberbayern gerade noch im legitimen Rahmen.

Eine Partie MineSwepper vor der Arbeit kann nicht schaden, denke ich, und durchforste mein Startmenu nach dem Spiel. Ich finde es unter Spiele. Nicht schlecht, diese Microsoft-Guys. Die wissen eben noch, wo die Spiele hingehören. Bei den unzähligen Trivialfällen finde ich meist schnell heraus, welche der verdeckten Felder Minen sind, und welche nicht. Rechtsklick, Linksklick, so einfach ist das. Dann gibt es aber Situationen, die Doppeldeutig sind (ich habe kürzlich in einem Magazin für Manager gelesen, alle MinesWeeper-Situationen seien eindeutig, aber es liegt wohl auf der Hand, dass dies nicht stimmt). Klick, klick, klicklick... verdammt. Genau die Situation, die ich hasse, und dies bei vier verbleibenden Minen. Mit Vierern und Dreiern, aber keine Einer. Welches ist die Mine? Es geht um die Zeit! Ich wähle spontan eine aus und - puh. Die restlichen Drei sind nur noch Formsache.

"Sie haben die schnellste Zeit auf dem Anfängerniveau. Geben Sie Ihren Namen ein. __________"

Wenn das kein guter Tagesanfang ist! Ich gebe meinen Namen nicht an, so nötig hab ichs ja auch nicht. Ausserdem schaff ichs dann beim nächsten Mal wieder auf Platz eins. Rein psychologisch das Beste, das weiss ich seit meinem letzten Leading-Kurs. Ausserdem stimmt es sowieso. Ich schliesse das Game und widme mich wieder ganz meiner Arbeit. Übers Wochenende habe ich ein Dokument finalisiert, mit dessen Hilfe jedes Projektmitglied eine Selbstevaluation seiner Selbstkompetenz durchführen kann. Aber bitte lassen Sie mich für den Anfang ein wenig ausholen, damit Sie verstehen, was ich hier tue:

Zum Pflichtprogramm der Studenten an unserem Institut gehört es, in jedem Semester ein Projekt zu absolvieren. In einer selbständig auswählbaren Rolle soll innerhalb eines fünf- bis siebenköpfigen Teams von Studenten ein Softwareprojekt verwirklicht werden, und zwar von A bis Z. Inklusive Kickoff-Meeting und Shutdown-Besäufnis. Hehe. Aber Spass beiseite. In einer realen Umgebung sollen die Jungspunde also kennenlernen, was es heisst, im Berufsleben zu stecken. Diesen Druck zu erleben und standhalten. Vom Stress erdrückt werden und reüssieren! Den Mann stehen wie echte Männer es tun!
In dieser Echtzeitsimulation spielen ich und meine Mitstreiter sowohl die Coaches als auch die Experten. Die Projektkunden sind reale Kunden und die Projektaufträge sind reale Projektaufträge. Es macht mich unglaublich stolz, wenn meine Studenten ein Produkt verwirklichen, welches der Kunde auch gebrauchen kann! Auch wenn dies selten der Fall ist. Ich kann mir an dieser Stelle einen Seufzer nicht verkneifen.

Auf jeden Fall dient besagtes Dokument dem Zweck, den Studenten in Form eines einfachen Interview-Bogens einen Weg zu zeigen, wie sie sich unter Betrachtung ihrer Leistungen einfach eine Note setzen können. Natürlich habe ich das Dokument ins Webcorp eingecheckt.

Webcorp bildet das Herzstück unserer Arbeit am Institut. Hier wird Interdisziplinarität gross geschrieben! Und genau dieses Webcorp ist es, das die unterschiedlichen Studienrichtungen zusammenbringt. Diese fächer- und jahrgangsübergreifende Web-Plattform dient dazu, Projekte zu verwalten. Ein revolutionäres Controlling-Modul erlaubt es registrierten Benutzern, ihre Arbeitszeiten auf Projekte zu buchen. Kern von Webcorp bildet jedoch die Dokumentverwaltung, welche zu Beginn zwar nur als Notlösung für fehlende Windows-Shares (ich glaube so hiess es, aber so richtig verstanden habe ich das ehrlich gesagt auch nie) eingeführt wurde, dessen Potential aber schon bald von mir erkannt wurde. Dank meinem Einsatz haben wir das, was wir heute haben: ein bequemes Webinterface, um Microsoft Office-Dokumente jeweils einzeln hochzuladen. Aus Sicherheitsgründen lässt sich auch bloss ein Dokument auf einmal herunterladen. Sonst würden sich die Projektmitglieder bestimmt private Backups ziehen! Vor dem Bearbeiten ist vom Benutzer jeweils bloss ein Webcorp-Diff durchzuführen (Rechtsklick auf beide Dateien, Dateigrössen vergleichen). Sind die Versionen unterschiedlich, liegen zwei verschiedene Versionen vor. Nun entscheidet der Benutzer, welches die neuere ist und alles ist paletti.

An dieser Stelle ein Wort zu meiner Dokumentbenennung: Als Prefix wird das Datum in einer Abwandlung des amerikanischen Formats verwendet, also z.B. 20060902_Name.doc. Manchmal checken die Schüler Dokumente ein die am Schluss .odt oder .tex haben. Komische Vögel. Aber item, mit dieser Art der Benennung heble ich gekonnt das in Webcorp eingebaute Versionsverwaltungssystem aus! Anstatt dem Datum und der Version eines Dokuments zu trauen, ist es mir einfach lieber, wenn ich gerade sehe, was ich da vor mir habe. Und darüber diskutiere ich nicht. Wo käme ich hin, wenn ich über jeden Hasenfurz diskutieren würde?

Es klopft. Bestimmt ist es J, der immer überpünktlich ist, falls er das richtige Zimmer auf Anhieb findet. Aber der ist schwer in Ordnung. Zur Sicherheit hänge ich mein Dokument der Webcorp-Newsmeldung über die Selbstevaluation an und versende es dadurch gleichzeitig an alle Studenten. Doppelt gesendet hält besser. "Komm einfach rein!"